Interview: „Agentic AI ist gekommen, um zu bleiben“

Beitrag von Dr. Dietmar Müller

Chefredakteur Beyond Buzzwords

17. Juni 2025

BB  Interview mit Eric Brabänder, Chief Product Officer bei Empolis 

Im Gespräch mit Beyond Buzzwords erläutert Eric Brabänder, was die mittelständische Fertigungsindustrie von der Agentic AI erwarten darf und welche Einsatzszenarien sich heute schon anbieten. Auch erklärt er, wie sich Agenten in ein bestehendes ERP-System integrieren lassen.


Beyond Buzzwords: Herr Brabänder, AI-Agenten werden derzeit als nächste große technologische Revolution gehandelt. Manche sprechen schon von Auswirkungen wie durch das Internet oder die Cloud. Doch bislang scheint die große Revolution noch auszubleiben. Bleibt sie am Ende aus?

Eric Brabänder: Nein, die Revolution bleibt nicht aus. Aber ich halte mich da an das sogenannte Amara-Gesetz: Wir neigen dazu, die kurzfristigen Effekte neuer Technologien zu überschätzen und die langfristigen zu unterschätzen. Genau das sehen wir derzeit bei Agentic AI. Die Erwartungen sind teils überzogen, weil wir beeindruckende Demos sehen, aber im Tagesgeschäft ist das alles noch nicht flächendeckend angekommen. Langfristig aber werden AI-Agenten unsere Arbeitswelt, Entscheidungsfindung und Wertschöpfung durchaus verändern.

Beyond Buzzwords: Was genau ist denn eigentlich unter Agentic AI zu verstehen, und wie unterscheidet sie sich von klassischer KI oder generativer KI?

Eric Brabänder: Klassische KI sind meist regelbasierte oder statistische Verfahren, wie Entscheidungsbäume, Knowledge Graphen, Machine Learning oder andere Verfahren. Generative KI, ein neueres Verfahren auf dem ChatGPT basiert, erzeugt vor allem Inhalte basierend auf Wahrscheinlichkeiten, etwa Texte oder Bilder. Agentic AI geht nun einen Schritt weiter: Sie umfasst softwarebasierte Agenten, die definierte Ziele verfolgen, Entscheidungen treffen und eigenständig Aktionen ausführen. Sie reagieren nicht nur, sondern handeln proaktiv. Im Gegensatz zu Chatbots oder Assistenten, die auf Befehle warten, kann Agentic AI dagegen aktiv Aufgaben übernehmen, planen, delegieren und ausführen – auch ohne ständige menschliche Interaktion.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass „Agentic AI“ ein übergeordneter Begriff ist: Er beschreibt eine ganze Klasse von Systemen, die ein agentenähnliches Verhalten zeigen, aber nicht notwendigerweise vollständige AI-Agenten im engeren Sinne sind. Ein AI-Agent ist ein autonom oder teilautonom handelndes System, das in der Lage ist, Ziele zu verfolgen, Entscheidungen zu treffen und diese in Handlungen umzusetzen. AI-Assistenten dagegen – wie etwa einfache Chatbots – unterstützen Nutzer meist nur bei einzelnen Aufgaben und benötigen menschliche Führung. Agentic AI umfasst also sowohl echte AI-Agenten als auch fortschrittliche Assistenten, die ähnliche Verhaltensmuster aufweisen, aber nicht völlig autonom agieren.

Beyond Buzzwords: Und wie funktioniert so ein Agentic-AI-System technisch?

Eric Brabänder: Technisch bestehen Agentic-AI-Systeme aus mehreren Modulen: Sie erfassen Daten aus ihrer Umgebung, haben eine Art Kurz- und Langzeitgedächtnis, planen Handlungen, treffen Entscheidungen und können Tools und APIs nutzen. Wichtig ist aber auch: Sie müssen über sogenannte Guardrails gesteuert und abgesichert werden, damit sie nicht eigenmächtig Dinge tun, die nicht gewollt sind. Es ist also ein Zusammenspiel aus Autonomie und Kontrolle.

Beyond Buzzwords: Wo sehen Sie aktuell die interessantesten Use Cases für den Mittelstand?

Eric Brabänder: Ganz klar im Service und Support. Unternehmen wie KUKA setzen schon heute AI-Agenten in Kombination mit gesichertem Wissen aus dem Wissensmanagementsystem von Empolis ein. Ein LLM-gestützter Assistent fragt dabei intelligent nach, bis er die passende Lösung in einer freigegebenen technischen Dokumentation gefunden hat. Dabei handelt es sich bereits um einen eigenständig auf ein Ziel hinarbeitenden AI Agenten, der verschiedene Tools kennt und so lange nutzt, bis er ein zufriedenstellendes Ergebnis zurückliefern kann. Das ist noch keine vollumfängliche Agentic AI, aber ein hervorragendes Beispiel für einen produktiv im Einsatz befindlichen AI Agenten. Auch im Vertrieb, in der Angebotserstellung, im Shopfloor als Werkerassistenz oder in der Wartungsplanung gibt es enormes Potenzial für solche Agentenbasierte Systeme. Gerade für mittelständische Kunden sind das zentrale Hebel für mehr Effizienz.

Beyond Buzzwords: Und wie lässt sich Agentic AI in ein bestehendes ERP-System integrieren?

Eric Brabänder: Es braucht offene APIs, modulare Architekturen und eine gute Prozesskenntnis. Aber noch wichtiger ist: Niemand will eine Technologieplattform und dann selbst Agenten bauen. Es braucht gerade bei mittelständischen Unternehmen geschäftsfertige Lösungen. Deshalb bieten wir zum Beispiel vorkonfigurierte und  „Ready-to-Use“ AI Applikationen für die Bereiche strukturierter und unstrukturierter Daten an, die auch einzeln direkt genutzt werden können. Diese bilden dann auch die Ausgangsbasis, um künftig über APIs von einer Agentic AI angesprochen werden zu können. So liefern wir dann beispielsweise Bestandsvorhersagen, Wiederbeschaffungszeiten oder Verbrauchsanalysen auf Basis von AI-basierten Verfahren. Im Bereich unstrukturierter Daten geht es vor allem um wissensbasierte AI-Lösungen, wie beispielsweise Chat-Assistenten für den Kundenservice oder geführte Werkerassistenz im Shopfloor und im Field Service.

Beyond Buzzwords: Ein großer Kritikpunkt ist das Thema Sicherheit. Wie gehen Sie damit um?

Eric Brabänder: Sicherheit ist ein zentrales Thema. Wenn Sie rein auf Blackbox-LLMs setzen, laufen Sie Gefahr, fehlerhafte oder nicht nachvollziehbare Ergebnisse zu bekommen. Deshalb kombinieren wir bei Empolis verschiedene Verfahren: generative AI-Verfahren mit symbolischen Ansätzen wie Knowledge Graphen, Entscheidungsbäumen oder Ontologien. Nur diese Kombination liefert vertrauenswürdige und nachvollziehbare Ergebnisse. Und natürlich braucht es Guardrails, Logging und klare Freigabemechanismen.

Beyond Buzzwords: Was ist dabei die Rolle des Menschen? Bleibt er „in the loop“?

Eric Brabänder: Absolut. Der Mensch bleibt immer in der Verantwortung, gerade bei kritischen Entscheidungen oder bei wichtigem Wissen, das Leib und Leben von Menschen bedrohen oder großen finanziellen Schaden verursachen kann. Agenten können Vorschläge machen, recherchieren, analysieren. Aber bei sicherheitsrelevanten oder geschäftskritischen Themen braucht es immer die menschliche Freigabe und gesichertes, geprüftes Wissen, auf das die AI-Systeme zugreifen müssen. Das System muss erkennen, wann es eine Entscheidung nicht alleine treffen darf. Ich sage immer, dass ich nicht in dem Flugzeug sitzen möchte oder in der Seilbahn, bei der eine Generative AI unter Umständen Falscheinformationen für den Wartungstechniker erzeugt hat. Hier braucht es verlässliche Verfahren für die Industrie.

Beyond Buzzwords: Und wie schafft man Vertrauen in diese Systeme?

Eric Brabänder: Vertrauen entsteht durch Transparenz. Agenten müssen erklären können, warum sie eine Entscheidung getroffen haben und woher sie ihre Informationen bezogen haben. Das kann durch Protokolle, Verweise auf die ursprünglichen Daten- und Wissensquellen, Erklärtexte oder durch visuelle Aufbereitungen passieren. Wichtig ist auch: Wir arbeiten mit verifizierten Quellen, z. B. mit redaktionell freigegebenen Wissensartikeln oder validen Anleitungen und Dokumenten.

Beyond Buzzwords: Was sind die nächsten Meilensteine in den kommenden zwei bis drei Jahren?

Eric Brabänder: Ich denke, dass wir in den nächsten Jahren einen massiven Anstieg in puncto Reifegrad bei agentischen Systemen sehen werden. Gartner prognostiziert, dass bis 2028 rund ein Drittel aller Software-Anwendungen Agentic-AI-Funktionalitäten enthalten werden. Wir werden dann nicht mehr über Tools sprechen, sondern über Co-Worker.

Beyond Buzzwords: Und welchen konkreten Mehrwert bieten ERP-Anbieter ihren Kunden mit Agentic AI?

Eric Brabänder: ERP-Anbieter können mit Agentic AI Prozesse proaktiv gestalten: automatische Nachbestellungen, intelligente Produktionsplanung oder selbstständiges Incident-Handling. Der Kunde muss nicht mehr fragen, sondern bekommt vom Agenten das nächste, sinnvolle To-do vorgeschlagen oder sogar erledigt.

Beyond Buzzwords: Welche Stolpersteine gibt es für Mittelständler?

Eric Brabänder: Neben Datenschutz und Compliance ist es oft die Angst vor Komplexität. Und das ist berechtigt. Deshalb ist unser Ansatz: vorgefertigte AI Apps für die zentralen, wertschöpfenden Geschäftsprozesse, keine Experimentierplattformen. Technologie muss sich dem Menschen anpassen, nicht umgekehrt.

Beyond Buzzwords: Welche Produktivitätsgewinne sind konkret möglich?

Eric Brabänder: Wir sehen bei Kunden bis zu 30 - 40 Prozent schnellere Bearbeitungszeiten im Support, deutlich höhere First-Time-Fix-Rates und spürbar entlastete Teams. Besonders spannend ist, wie neue Rollen entstehen: vom Content-Ersteller zum KI-Trainer, vom Supportmitarbeiter zum strategischen Kurator.

Beyond Buzzwords: Wie bereitet man als KMU seine Daten sinnvoll für die Verarbeitung durch AI-Agenten auf?

Eric Brabänder: Gute Frage. Es geht nicht nur um „saubere Daten“. Wichtig ist, dass Wissen strukturiert, nachvollziehbar und gesichert vorliegt, gerade wenn es um variantenreiche und komplexe Produkte und Prozesse in den industriellen Bereichen geht. Die besten Ergebnisse erzielen wir mit Kunden, die ihre Dokumentation systematisch pflegen und bereit sind, ihr Wissen zu kuratieren. Wir helfen dabei natürlich. Aber wir haben auch ein AI-basiertes System entwickelt, dass in großen, unstrukturierten Wissensbeständen hilft, die Daten aufzubereiten, das Wissen zu explorieren und teils automatisch neues und gesichertes Wissen zu erstellen und zur Freigabe durch Experten vorzulegen. Das geht hervorragend bei Ticketsystemen, unternehmensinternen und -externen Foren oder auch bei Chat-Dialogen von Experten und E-Mail-Verteilern. Wir greifen das Wissen dort ab, wo es entsteht.

Beyond Buzzwords: Zum Abschluss: Was ist Ihr persönlicher Lieblings-Use-Case für Agentic AI?

Eric Brabänder: Ganz klar: unser Projekt bei KUKA. Dort nutzen tausende Anwender unseren Assistenten, der mit gesichertem Wissen aus umfangreichen, technischen Dokus die richtige Lösung findet. Nicht per Zufall, sondern durch echtes „Reasoning“. Das ist keine Magie, sondern ein echter Produktivmacher.

 

Beyond Buzzwords: Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

 

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