„Syntax alleine genügt nicht mehr“

Beitrag von Dr. Dietmar Müller

Chefredakteur Beyond Buzzwords

03. Oktober 2025

Interview mit Jan Appel, Professor für Wirtschaftsinformatik an der IU Internationale Hochschule und Vorstand von decidely.ai zur Zukunft der Informatik. Kann man Studierenden heute noch empfehlen, Programmieren zu lernen?


Die Diskussion, ob sich das Erlernen des Programmierens im Zeitalter von AI überhaupt noch lohnt, entzündet sich aktuell an vielen Hochschulen, in Unternehmen und nicht zuletzt in der öffentlichen Debatte. Allein in Deutschland sind laut Bundesagentur für Arbeit derzeit mehr als 15.000 Softwareentwickler*innen arbeitslos gemeldet – eine Zahl, die überrascht, wenn man gleichzeitig von Fachkräftemangel in der IT-Branche liest. Doch sie verweist auf eine Realität: Der Markt ist im Umbruch. Einstiegsjobs, die noch vor wenigen Jahren sichere Karriereschritte waren, geraten durch Automatisierung und Künstliche Intelligenz zunehmend unter Druck.

Wir von Beyond Buzzwords haben uns bei Jan Appel, Professor für Wirtschaftsinformatik an der IU Internationale Hochschule und Vorstand von decidely.ai, erkundigt, ob man Studierenden heute noch empfehlen kann, Programmieren zu lernen?

Appel: Die kurze Antwort lautet: Ja – aber mit einer wichtigen Einschränkung. Wer heute in die Informatik einsteigt, darf nicht mehr davon ausgehen, dass es genügt, die Syntax einer Programmiersprache zu beherrschen und Fleißarbeit im Code zu leisten. Genau diese Tätigkeiten werden bereits von AI-Systemen übernommen – und zwar schneller und oft zuverlässiger als von Neulingen. Typische Junior-Tätigkeiten, also etwa das Umsetzen klar beschriebener Anforderungen in Code, sind für ein Tool wie Cursor oder GitHub Copilot eine leichte Übung.

Was aber aktuell und vermutlich auch in Zukunft einen Mehrwert liefert, ist tiefes Verständnis: Wie baue ich Systeme so auf, dass sie langfristig wartbar und skalierbar sind? Welche Architektur trägt die fachliche Logik eines Unternehmens wirklich? Welche Sprache, welches Framework, welche Cloud-Umgebung ist für welchen Zweck geeignet – und welche Kombinationen führen in die Sackgasse?

Das heißt: Ja, man soll Programmieren lernen. Aber nicht, um später Zeilen von Code zu tippen, sondern um die Prinzipien dahinter zu verstehen. Wer die Abstraktionsschichten kennt – von Maschinensprache über imperativ, objektorientiert bis hin zu architekturgetriebenen Modellen – wird die neuen Werkzeuge viel besser einsetzen können. Solide Grundlagen in Python und JavaScript sind heute fast unverzichtbar, aber entscheidend ist die Fähigkeit, sich schnell in neue Sprachen hineinzudenken und mit wechselnden Paradigmen umzugehen. Lernfähigkeit ersetzt Festlegung.


Wird die AI künftig nicht sämtliche Programmiertätigkeiten übernehmen?

Nein – aber sie wird die Arbeit fundamental verändern. Schon jetzt sehen wir, dass AI Fleißarbeiten übernimmt: Unit-Tests generieren, Boilerplate-Code schreiben, Standard-Schnittstellen umsetzen. Für Unternehmen ist das ein Segen, denn es spart Zeit und Geld. Für Berufseinsteigende ist es eine Herausforderung, denn die klassischen „Einsteigerjobs“ verschwinden.

Aber: Die Idee, dass AI die gesamte Programmierung übernimmt, unterschätzt die Rolle des Menschen. Denn Softwareentwicklung ist nicht nur Tipparbeit, sondern auch Entscheidungskunst. AI kann vorschlagen, aber sie versteht nicht im menschlichen Sinne, welche strategischen Ziele ein Unternehmen verfolgt, welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten, wie die Unternehmenskultur tickt oder welche politischen Implikationen eine Technologie haben könnte.

Gute Entwicklerinnen und Entwickler werden also nicht durch AI ersetzt, sondern mit ihr arbeiten – ähnlich wie gute Ingenieure nicht durch CAD-Systeme ersetzt wurden. Stattdessen gilt: Wer die richtigen Fragen stellen kann, wer die AI mit präzisen Anweisungen füttert und deren Ergebnisse kritisch prüft, wird extrem produktiv sein. Die alte Erkenntnis, dass ein guter Programmierer um ein Vielfaches produktiver ist als ein schlechter, gilt mehr denn je – nur dass der Faktor durch AI-Unterstützung noch größer wird.


Wie sieht die Tätigkeit eines Informatikers Ihrer Meinung nach in fünf bis zehn Jahren aus?

In fünf Jahren wird Programmieren in Unternehmen kaum noch so aussehen, wie wir es von vor fünf Jahren kennen. Die Tätigkeit wird sich von der reinen Codierung hin zur Gestaltung verschieben. Informatikerinnen und Informatiker werden die Rolle von Requirement Engineers, Architekten und Orchestratoren einnehmen: Sie strukturieren Anforderungen so, dass AI-Tools daraus funktionierenden Code generieren können. Sie überwachen zudem Qualität, Sicherheit und Performance und verstehen, wann es sinnvoll ist, tief in den Code einzusteigen – etwa in sicherheitskritischen oder hochperformanten Anwendungen. Und schließlich sind sie Schnittstellenmanager zwischen Fachbereichen, AI-Systemen und technischer Umsetzung.

In zehn Jahren könnte sich dieses Bild noch stärker in Richtung „System-Designer“ verschieben. Die Fähigkeit, komplexe Systeme zu modellieren, Abhängigkeiten zu verstehen und die richtigen Technologien auszuwählen, wird wichtiger sein als das Detailwissen über Syntax. Gleichzeitig wird es immer Nischen geben, in denen Spezialwissen gefragt bleibt – gerade dort, wo AI an Grenzen stößt: Cybersecurity, Echtzeitsysteme, Embedded Devices, sicherheitskritische Software.

Es ist keine leichte Zeit, um in die Programmierwelt einzusteigen. Die klassischen Karrierepfade werden brüchig. Die Einstiegsgehälter geraten unter Druck, und die Lernkurve wird steiler. Aber das ist kein Grund zur Resignation.

Wer heute Informatik studiert oder ins Programmieren einsteigt, sollte sich nicht fragen: „Welche Sprache bringt mich durch?“ Sondern: „Wie baue ich mir ein tiefes Verständnis auf, um mit den Werkzeugen der Zukunft produktiv zu sein?“ Informatiker:innen von morgen sind nicht mehr in erster Linie Code-Schreiber. Sie sind Systemgestalter, AI-Dompteure, Brückenbauer zwischen Technik und Business. Und das macht den Beruf spannender denn je.

 

 

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