Der Mittelstand kämpft heroisch

Beitrag von Dietmar Müller

Chefredakteur Beyond Buzzwords

28. Januar 2025

Management-Beraterin Jane Enny van Lambalgen berichtet aus der Praxis

Der Mittelstand ist auf die Nutzung eines Enterprise Resource Planning (ERP)-Systems angewiesen, um seine Ressourcen erfolgsbringend einzusetzen. Was aber, wenn die Rahmenbedingungen so schlecht sind, dass auch das beste ERP-System sowie der Einsatz von AI das Überleben einer Firma nicht mehr sicherstellen kann? Die Management-Beraterin Jane Enny van Lambalgen berichtet aus ihrer Praxis.


"Der deutsche Mittelstand geht mit vielen Baustellen ins Jahr 2025", stellt Jane Enny van Lambalgen, CEO der Beratungs- und Managementfirma Planet Industrial Excellence, fest und zählt auf: ein enormer Investitionsstau, wenig optimierte Betriebsabläufe, ein häufig mangelhafter Vertrieb, geringes Markenbewusstsein, eine nur gering entwickelte Digitalisierung und kaum Kompetenz beim Einsatz der Artificial Intelligence (AI). "Natürlich leidet nicht jeder Mittelständler unter all diesen Mängeln, aber sehr viele mittelständische Firmen haben gleich auf mehreren dieser Gebiete einen erheblichen Nachholbedarf", so die Management-Beraterin.
 
Lambalgen berichtet aus der Praxis, dass sie immer wieder auf Unternehmen stößt, die 20 Jahre alte ERP-Systeme betrieben, und zwar "ohne dass jemals eine nennenswerte Aktualisierung erfolgt ist". Erst im Zuge neuer Compliance-Regeln falle den Verantwortlichen dann auf, dass der Betrieb so nicht mehr fortgeführt werden könne. In diesen Fällen sei die Einführung eines modernen ERP-Systems die erste Maßnahme zur Firmenrettung. "Schließlich stellt ein ERP-System in der Regel das Herzstück der Digitalisierung in mittelständischen Unternehmen dar", so die Management-Expertin.

Geschäftsprozesse so wenig zeitgemäß wie das ERP-System

Die typischen Funktionen eines ERP-Systems umfassen Finanzbuchhaltung, Warenwirtschaft, Einkauf und Beschaffung, Produktionsplanung, Vertrieb und Kundenmanagement, Personalwesen, Lager und Logistik, Projektmanagement, Berichtswesen und Analytik, Dokumentenmanagement, und Workflow-Automatisierung. "Angesichts des galoppierenden technischen Fortschritts ist manch ein Mittelständler geradezu im Mittelalter stehengeblieben", wird Lambalgen deutlich. Sie analysiert: "Das Fatale daran ist, dass oftmals nicht nur die ERP-Funktionalität, sondern auch die damit zusammenhängenden Geschäftsprozesse wenig zeitgemäß sind."
 
Die Dokumentation im ERP-System für aktuelle betriebliche Themen wie Arbeitsschutz, Gefahrstoffregulierungen wie RoHS (Restriction of Hazardous Substances), REACH (Regulation on the Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) oder das PFAS-Verbot (Per- and polyfluoroalkyl Substances) sowie die CE-, UL-, oder ATEX-Zertifizierungen (Conformité Européenne, Underwriters Laboratories, Atmosphères Explosibles), die Lieferkettendokumentation und Nachhaltigkeit sei höchstens rudimentär vorhanden. "Risikomanagement in diesen Bereichen ist für viele kleine und mittelständische Unternehmen noch ein Fremdwort", so Lambalgen.
 
Die Management-Expertin differenziert: "Selbstverständlich gibt es auch die Spitzenreiter, die sich nicht nur technologisch, sondern in vielerlei Hinsicht positiv hervorheben. Das sind häufig die Hidden Champions, die teilweise über 70 Prozent Weltmarktanteil in ihrem Segment verfügen. Aber diese Spitzenunternehmen stellen höchstens etwa drei Prozent des deutschen Mittelstands dar."

Mängel beim Business Development

Lambalgen berichtet weiter, dass systematisches Business Development, um neue Kunden oder gar neue Zielgruppen zu erschließen, in weiten Teilen des Mittelstands ein Fremdwort sei. Statt eines echten Customer Relationship Managements (CRM) finde sie oftmals „Kundendatenbank vor. Ebenso wenig ausgeprägt ist nach ihren Erfahrungen häufig das Marketing. "Gelegentliche E-Mail-Kampagnen nach dem Gießkannenprinzip halten viele mittelständische Industriefirmen offenbar für ausreichend", bemängelt die Beraterin.
 
"Viele KMUs haben den Begriff ‚Market Intelligence‘ noch nie gehört und können sich gar nicht vorstellen, dass mittels AI tatsächlich neue Kunden gefunden werden können. Stattdessen wartet der Vertrieb, bis ein Kunde anruft“, hat Lambalgen in Projekten festgestellt. Die Konsequenzen beschreibt sie wie folgt: „Wenn dadurch der Umsatz zurückgeht, versuchen sich die Firmen mit Preiskämpfen dagegen zu stemmen, weil das Marketing nicht in der Lage ist, die Unique Sellings Points der Produkte hervorzuheben.“ Sie spricht von einer häufig anzutreffenden „toxischen Verbindung zwischen Vertrieb und Umsatz."

"AI-Durchflutung von unten"

Die Durchdringung der mittelständischen Wirtschaft mit AI findet in erster Linie außerhalb der vorgesehenen Betriebsprozesse statt, hat die Expertin festgestellt. Sie beschreibt den Vorgang wie folgt: "Einzelne Beschäftigte nutzen AI-Tools mehr oder minder klammheimlich, um sich ihren Arbeitsalltag zu erleichtern. Das steigert zwar die individuelle Produktivität, birgt jedoch viele Gefahren etwa durch AI-Halluzinationen oder die unzulässige Verwendung personenbezogener Daten, wenn diese beispielsweise in ein US-basiertes AI-System hochgeladen werden."

Nach Einschätzung der Management-Beraterin wird diese "AI-Durchflutung von unten" 2025 massiv zunehmen, „weil die AI-Tools immer besser werden und immer mehr Menschen die Vorteile für sich entdecken“. Die "AI-Baustelle" wird künftig zu den größten Herausforderunten im Mittelstand gehören, ist sich Jane Enny van Lambalgen sicher, "wobei sich die Geschäftsleitung in vielen Firmen dieser Baustelle noch nicht einmal bewusst ist."

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