Wie Sensoren die Grundlage des IIoT bilden und Digitale Zwillinge entstehen
Eine wahre Flutwelle von Sensor-Chips begegnet uns im Alltag, aber auch in der Industrie. Mancher Gegenstand ist schnell mit einem Sensor versehen, lässt aber bei weitem noch die Intelligenz und Auswertungsprozesskette missen, die ihm zugeschrieben wird. Bei all dem Fortschritt der vergangenen Jahre kommt die Idee zur Smart Factory derzeit nur langsam voran. Digitale Zwillinge können jedoch Struktur ins eigene Internet der Dinge bringen.
Das Internet der Dinge hat seinen Ursprung in einem Problem mit dem Lippenstift. Noch als Manager bei Proctor & Gamble tätig, grübelte Kevin Ashton über die Tatsache nach, dass ein Lippenstift in einem ganz bestimmten Braunton ständig ausverkauft war [1]. Die damals üblichen Inventur- und Kassensysteme konnten allerdings nicht bei der Aufklärung des Problems helfen. Ashton dachte darüber nach, einen kleinen Sende-Chip im Lippenstift einzubauen, mit dem die Ware besser zu verfolgen war. Ashton trieb danach die RFID-Technologie (Radio-Frequency Identification) am Auto-ID Laboratory des MIT in Cambridge, Massachusetts, wesentlich voran. Ashton war es auch, der bereits 1999 den Begriff des „The Internet of Things“ (IoT) prägte. Die Einengung des Begriffs auf IIoT – Industrial Internet of Things – für die Industrie sollte später folgen und seither ist, ob für die Konsumgüterindustrie als RFID-Chips oder die Fertigung und andere Branchen mit einer Vielzahl an Sensortypen, die Menge der Dinge im Internet ins Astronomische gewachsen. Schätzungen von IDC zufolge wird im Jahr 2025 die Zahl der miteinander verbundenen „Dinge“ auf 41 Milliarden anwachsen, die 79 Zettabytes an Daten generieren. [2]Exkurs: Einzelhandel als Beispiel für sensorgetriebenes Business
Ein Blick auf den Einzelhandel zeigt, wie die großen Fastfashion-Hersteller hier in den vergangenen Jahren voranschreiten. Im New Yorker Flagship-Store von Uniqlo, einem japanischen Fastfashion-Unternehmen, wirft der Käufer seine Modestücke in eine korbartige Vertiefung am Check-out [3]. In den Preisschildern sind miniaturisierte RFID-Chips verborgen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen erscheinen alle Waren am berührungsempfindlichen Display der Kasse. Der oder die Käufer*in kann zustimmen und umgehend mit Smartphone oder aufgelegter Kreditkarte zahlen.
Das geht so reibungslos, weil Fast Retailing, die Mutter von Uniqlo, seit 2019 an diesen Self-Checkout-Klassen feilt. Es geht auch, weil Miniaturisierung, Stückkosten, Software-Technologie, aber auch die Connectivity samt der nötigen Bandbreite seit der Jahrtausendwende erhebliche Fortschritte gemacht haben. Die Preise für einen RFID-Tag beispielsweise sind von 60 US-Cent auf aktuell 4 US-Cent gefallen.
Die Zahl der ausverkauften Waren wurde bei Uniqlo deutlich reduziert, ebenso schrumpfte die Wartezeit an den Kassen um die Hälfte. Dabei sind die Self-Checkout-Kassen nur die Spitze des Eisbergs, sichtbar für die Kund*innen. Dahinter steckt eine komplett digitalisierte Produktions- und Logistikplattform. Vertikal hoch integrierte Textilhersteller tun sich leichter, im Extremfall bleibt alles im Unternehmen, vom Schaf bis zum fertig getagten Pulli. In der Fertigungsindustrie geht es vom Rohstofflieferanten über diverse Vorstufen an Teilprodukten bis zum Endprodukt, jeweils in rechtlich, wirtschaftlich und geographisch voneinander getrennten Firmen.
Die Orchestrierung enormer Mengen an Daten aus unzähligen Sensoren ist immer noch eine gewaltige Herausforderung. So sehr zum Beispiel die Bandbreite gewachsen ist, zeigte sich dennoch, dass Daten ebenso wie Produkte in Zwischenstufen besser vor Ort (teil-)verarbeitet werden, was sich dann Edge Computing nennt. Nach wie vor geht es um die hochautomatisierte Fabrik. Wenn nicht sogar – ganz unbescheiden – um die Digitalisierung von ganzen Industriezweigen. Wofür vor über 13 Jahren auf der Hannover Messe das Schlagwort von der Industrie 4.0 geprägt wurde. Inzwischen wirkt der Begriff ein wenig abgetragen, vor allem wenn es um konkrete Wertschöpfung außerhalb der „Fabriktore“ geht. So stellt Roland Berger [4] etwa in einer 2023 erschienenen Studie fest, dass „die ursprüngliche Vision einer autonomen, hochflexiblen und selbstorganisierenden Fabrik“ immer noch in weiter Ferne liegt. In fünf Bereichen konstatiert Berger immerhin einen gewissen Fortschritt: bei der Echtzeitoptimierung von Maschinenparametern, der Zustandsüberwachung (wobei das Teilgebiet Predictive Maintenance dennoch in den Kinderschuhen steckt), der automatisierten Qualitätsprüfung (derzeit am besten mittels visueller Prozessdaten), und maßgeblich in den beiden Logistikbereichen autonomer Materialtransport in der Intralogistik sowie Transportverfolgung entlang der Lieferkette.
Die Lage ist weiterhin unübersichtlich. Es tut sich viel bei der Konnektivität, der Cloud-Technologie und der Software-Algorithmik, insbesondere bei der rasanten Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Für den Mittelständler geht es darum, für sich eine pragmatische und gewinnbringende Rolle zu finden, und dabei sieht er sich vor Wahlmöglichkeiten, die weitaus quälender sind, als wenn Alice vor dem Lippenstiftregal eines Drogeriemarktes steht.
ERP und der Digitale Zwilling
Da hilft ein Konzept, wie man Daten organisieren kann. Das Paradigma heißt digitaler Zwilling oder Digital Twin. Michael Grieves hat dieses Konzept zuerst für die Fertigung 2002 vorgedacht und John Vickers prägte innerhalb der NASA im Jahr 2010 den Begriff „Digital Twin“ [5]. Heute sind Digital Twins bei deutschen Unternehmen bereits zu 44 Prozent im Einsatz. Das ergab eine Umfrage von Bitkom Research zur Hannover Messe 2023 unter 603 deutschen Unternehmen [6]. Deloitte sieht den Digital Twin als direkte Ableitung aus dem IIoT [7]. Digitale Zwillinge sind die Verbindung zur physikalischen Welt mittels Sensoren, die laufend Messwerte liefern, welche das Konzept des Digitalen Zwillings hervorgebracht hat. Digital Twins sind demnach virtuelle Abbilder von physischen Objekten oder Systemen, die vier Kernmerkmale aufweisen: Sensoren und ihre Konnektivität, definierte Datenstrukturen und eine (möglichst visuelle) Schnittstelle für den Menschen.
Im Digital Twin begegnen sich auch die klassische Welt des ERP (Enterprise Ressource Planning) mit Sensor-Daten aus der OT (Operational Technology) in der Werkshalle, Konstruktionsparameter aus den CAD-Systemen oder Businessinformationen aus weiteren Anwendungen des Unternehmens. Ein Digitaler Zwilling einer Maschine beispielsweise kann diese auch lebenslang begleiten, bis zum Recycling. Die Rolle des ERP wird wieder wichtiger, denn nicht nur fließen Parameter vom ERP in den Digital Twin ein, umgekehrt tragen die Echtzeitdaten (aus der physikalischen Maschine) des Digital Twin dazu bei, dass das ERP im Rahmen der Wartung beispielsweise Material bestellt oder in einem Dashboard das betriebliche Monitoring verbessert.
Von der Uni in den Mittelstand
Mittelständler*innen können den Einstieg in die Welt der Smart Factory mit digitalen Zwillingen am besten über Praxisprojekte an Technischen Universtäten wie in Aachen, Kaiserslautern, Würzburg, Potsdam oder Graz finden. In einer Modellfabrik in Graz [8] wird etwa ein Automotive-Getriebe als Demonstrationsobjekt in 18 Varianten gefertigt. Mit dem Web-basierten Produktkonfigurator eines ERP-Systems wie dem von Proalpha [9] können Kund*innen die Produktvarianten selbst konfigurieren. Relevante Informationen wie CAD-Zeichnungen oder Stücklisten werden im Product-Lifecycle-Management System (PLM) gewartet und danach über einen intelligenten Algorithmus ins ERP-System übernommen. Das ERP-System wird in Kombination so zur zentralen Daten- und Steuerplattform und nimmt eine zentrale Rolle speziell in der agilen Produktion ein.
Der Digital Twin weist auch den Weg in eine erfolgreiche Spezialisierung der deutschen und europäischen Industrie. Es geht nicht mehr um Massenfertigung, sondern um eine Produktion von individualisierten Bauteilen und Maschinen in höchster Qualität. Das kann im Extremfall bis zur Stückzahl 1 gehen. Dies ist die Zukunft. Wer daran zweifelt, sollte sich das Motto von Abraham Lincoln zu Herzen nehmen: „The best way to predict future is to create it.“ [10]
Quellennachweise:
[1] zu Kevin Ashton: https://www.newsweek.com/2015/03/06/meet-kevin-ashton-father-internet-things-308763.html
[2] https://www.iiot-world.com/industrial-iot/connected-industry/new-iot-signals-report-by-microsoft/
[3] UNIQLO Self Checkout https://www.wsj.com/articles/uniqlos-parent-company-bets-big-on-tiny-rfid-chips-600b124f
[4] Was wurde aus I4.0? https://www.rolandberger.com/de/Insights/Publications/Was-wurde-aus-der-Industrie-4.0.html
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Digitaler_Zwilling
[6] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Digitale-Zwillinge-Industrie-Standard
[8] https://www.proalpha.com/de/blog/smart-factory-so-sieht-die-produktion-von-morgen-aus
[9] https://www.proalpha.com/de/erp-system-mittelstand/prozesse/produktkonfigurator